Adaptive Case Management – Informativer Sammelband

In jüngster Zeit hat das Schlagwort „Adaptive Case Management“ viel Aufmerksamkeit gewonnen. Kurz gesagt geht es um die Unterstützung schwach strukturierter Prozesse, deren genauer Ablauf nicht von Vornherein bestimmt werden kann. Beispielsweise lässt sich nicht im Detail festlegen, wie eine medizinische Behandlung abläuft. Je nach Ergebnis einer Diagnose und abhängig vom Krankheitsverlauf müssen verschiedene weitere Untersuchungen durchgeführt und unterschiedliche Behandlungsmaßnahmen durchgeführt werden. Der behandelnde Arzt muss jeweils situationsabhängig entscheiden, wie weiter verfahren wird. Dennoch ist der Prozess nicht völlig unstrukturiert, denn es gibt durchaus Regeln, die eingehalten werden müssen. So muss ein Patient etwa vor einer Operation über die Risiken aufgeklärt werden, und er muss seine Einwilligung erteilen. Einige Teilabläufe innerhalb der gesamten Behandlung sind auch sehr genau festgelegt. So dürfte der Ablauf einer routinemäßigen Blutuntersuchung im Labor inklusive der Dokumentation und Weiterleitung der Ergebnisse recht einheitlich verlaufen. Weitere Beispiele für wenig determinierte Prozesse sind z. B. die Abwicklung von Gerichtsverfahren, das Beheben komplizierter technischer Defekte, das Erstellen eines kundenindividuellen Angebots oder die Begutachtung eines Versicherungsschadens.

Herkömmliche BPM-Systeme sind wenig geeignet, solche Prozesse abzuwickeln. Sie benötigen Prozessmodelle, die jeden Schritt genau vorgeben. Zwar können Prozessmodelle Verzweigungen enthalten, doch lassen sich auch damit nur einige vordefinierte Pfade definieren. Es ist jedoch nicht so leicht möglich, Aktivitäten fast beliebig zu kombinieren oder ganz neue, unvorhergesehene Aktivitäten hinzuzufügen. In Case Management-Systemen steht deswegen kein Prozessmodell im Vordergrund, sondern eine elektronische „Fallakte“, die sämtliche Informationen und Dokumente zu jedem einzelnen Fall enthält. Eine solche Fallakte enthält auch Informationen über den bisherigen Verlauf des Falls und über die nächsten Schritte, z. B. weitere angeordnete Untersuchungen. Eine durchgängige, komfortable IT-Unterstützung solcher schwach strukturierten Prozesse kann recht komplex werden. Je nach Anwendungsbereich werden Funktionalitäten aus den Bereichen BPM, Dokumentenmanagement, Business Rules Management, Event Processing, Social Software, ERP, Business Intelligence und anderen benötigt.

Eine ziemlich umfassende Übersicht über die verschiedenen Ansätze zu diesem Thema finden sich in dem von Keith Swenson herausgegebenen Buch „Mastering the Unpredictable“ (Anzeige). In insgesamt 13 Kapiteln stellen verschiedene Autoren, vor allem aus dem Umfeld der Workflow Management Coalition (WfMC), ihre Sicht der Dinge dar. Ich möchte hier nicht auf sämtliche Beiträge im Einzelnen eingehen. Interessant finde ich aber die Spanne der verschiedenen Vorschläge zur Entwicklung von adaptiven Case Management-Systemen. So geht John T. Matthias etwa von einer ganz klassischen Software-Entwicklung eines dedizierten Systems für einen bestimmten Anwendugnsbereich aus, z. B. für Gerichte. Durch einen agilen Entwicklungsprozess unter stärkerer Einbeziehung der Anwender und ein geeignetes Framework soll ein flexibleres, besser an die Benutzerbedürfnisse angepasstes System entstehen.

Die meisten Autoren gehen hingegen von einer Case Management-Plattform aus, die unabhängig vom konkreten Anwendungsbereich ist, und die grundlegende Funktionalitäten wie die Verwaltung der Fallakte, Zielen, Deadlines, Aufgabenzuordnungen usw. umfasst, aber auch Möglichkeiten zur Auswertung sowie einen Audit Trail umfasst. Weiterhin soll ein solches System die Möglichkeit bieten, Templates, d. h. Vorlagen für verschiedene Prozesse zu erstellen. Ein solches Template kann Datenstrukturen, Vorlagen für zu erstellende Dokumente, Checklisten für durchzuführende Aufgaben u. ä. enthalten. Für einen konkreten Fall kann der Bearbeiter das passende Template verwenden und während der Falldurchführung anpassen und erweitern. Zum Teil wird vorgeschlagen, zunächst ein leeres Case Management-System zu verwenden. Die Mitarbeiter können die Informationen, Dokumente, Aufgaben usw. völlig frei zusammenstellen um ihre Aufgabe zu erledigen. Im Laufe der Zeit können häufig verwendete Strukturen zu einem Template verallgemeinert und anderen Mitarbeitern zur Verfügung gestellt werden. Templates können aber auch verpflichtende Teile enthalten oder Regeln, die erfüllt sein müssen, damit beispielsweise gesetzliche Bestimmungen eingehalten werden.

Den wohl umfassendsten Ansatz entwirft Max Pucher in seinem Beitrag. Er beschreibt eine komplett integrierte Plattform mit einem nahtlosen Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten, wie z. B. einem zentralen Change Management-Repository, einer verteilten Ausführungsumgebung, Anwendungsschnittstellen, Content Management, Fallmanagement, Prozessmanagement, Geschäftsregeln, einer konfigurierbaren Benutzungsoberfläche sowie eingebetteten Sicherheitsfunktionen sowie elektronischer Archivierung. Damit geht er weit über das spezielle Thema hinaus, denn er sieht eine solche Plattform als Grundlage für die Unterstützung aller Prozesse und damit für alle betrieblichen Anwendungen. Der ursprüngliche BPM-Ansatz sei sowieso falsch, da sich Prozesse mit all ihren Details nicht sinnvoll vordenken lassen, sondern durch die beteiligten Mitarbeiter selbst erstellt werden müssen.

Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Beiträge macht deutlich, dass das Thema noch am Anfang steht, doch dürfte das Potenzial der Enticklung in diesem Bereich noch wesentlich höher sein als im Bereich der stark strukturierten Prozesse. Wer sich in die Thematik einarbeiten will, wird an diesem Buch nicht vorbeikommen.


Keith D. Swenson (Hrsg.):
Mastering the Unpredictable
How Adaptive Case Management Will Revolutionize the Way That Knowledge Workers Get Things Done.
Meghan-Kiffer Press, Tampa, Florida 2010.
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