Was haben wir bloß mit der Prozessoptimierung angerichtet…

Warnung: Dies ist keine Gutenachtlektüre für Prozessmanager. Die meisten Bücher über Prozessoptimierung heben die positiven Aspekte hervor: Ineffiziente, über lange Jahre gewachsene Prozesse werden schneller, billiger, kundenfreundlicher, und es kommt zu weniger Fehlern. Wer wollte das nicht?

Wenn jedoch Gunter Dueck mit dem Titel seines neuesten Buchs fragt: „Heute schon einen Prozess optimiert?“, dann meint er das nicht positiv. Er beschwört ein Bild von „finsteren Prozessoptimierern“, die die Geschäftsprozesse gnadenlos auf Effizienz trimmen und die Mitarbeiter zu reinen Bedienern komplett standardisierter Prozesse machen. Insgesamt bescheinigt er den deutschen Unternehmen große Erfolge bei der Prozessoptimierung. Allerdings habe der fast ausschließliche Fokus auf die Verbesserung der Abläufe dazu geführt, dass etablierte Unternehmen kaum noch echte Innovationen hervorbringen und nicht mehr zukunftsfähig sind. Auf die Herausforderungen der digitalen Transformation reagieren sie mit noch mehr Effizienzbemühungen, d. h. noch mehr vom Gleichen. Dabei handele es sich um eine ausgewachsene Systemneurose.

Die Menschen in den Prozessen werden zu austauschbaren Ressourcen, die nach standardisierten Vorgaben diejenigen Arbeitsschritte ausführen müssen, die noch nicht automatisiert sind. Eine derartige „McDonaldisierung“ der Arbeit findet sich in fast allen Branchen. Die Mitarbeiter leiden unter immer größerer Arbeitsverdichtung – und zwar nicht nur in operativen Prozessen, sondern auch in Bereichen hochqualifizierter Arbeit. Nachdenken, ausprobieren – das, was für echte Innovationen nötig ist – ist kaum noch möglich.

Wenn die Mitarbeiter zwischen widersprüchliche Anforderungen nach höchster Kundenzufriedenheit einerseits, und kaum erreichbaren Umsatzzielen andererseits, zerrieben werden, führt dies zu Qualitätseinbußen und Schumeleien, wie sie etwa in der Dieselaffäre zu sehen waren. Um hier gegenzusteuern werden immer mehr Vorschriften und Regularien erlassen. Die Einhaltung all dieser Regeln führt zu überbordender Bürokratie. Umfangreiche Nachweispflichten sind zu erfüllen – oft ohne tatsächlichen Nutzen, wie z. B. die Beratungsdokumentation bei Banken.

Ständige Prozessoptimierung und Reorganisationen, verbunden mit hohen Leistungserwartungen, verursachen auch ständige Unruhe und Frustration. Oftmals sind die neuen, effizienteren Abläufe auch nicht zu Ende gedacht, so dass jedes Vorkommnis außer der Reihe zu manchmal bizarren Problemen führt.

Dabei lehnt Dueck die Optimierung und Standardisierung von Prozessen nicht grundsätzlich ab: Dort, wo sich Vorgänge tausendfach wiederholen, ist es sinnvoll, diese zu standardisieren und zu automatisieren. Hingegen können etwa komplett durchgeplante Forschungsaktivitäten, bei denen schon zu Beginn das Ergebnis formuliert werden muss, kaum zu wirklichen Innovationen führen.

Was können Unternehmen tun, um ihre Systemneurose zu bezwingen? Es wird die Geisteshaltung eines Unternehmens im Frühstadium benötigt, in dem noch echte Innovationen entstehen können, ohne von einem bürokratischen Korsett erstickt zu werden. Dueck plädiert dafür, „Prozessfürsten“ auf Intrapreneurschulungen zu schicken, in denen sie selbst erfahren, welche Steine einem bei der Umsetzung neuer Ideen in den Weg gelegt werden. Weitere vorgeschlagene Ansätze sind die Einführung von Fachlaufbahnen, eine stärkere Anerkennung von fachlichen Leistungen (z. B. Belohnungen für angemeldete Patente), eine größere Diversität und eine offene Kultur. Das Führungspersonal sollte weniger durch Tagesgeschäft ausgelastet werden, und alle einigermaßen talentierten Mitarbeiter durch besseres Coaching zu engagierten Leistungsträgern entwickelt werden.

Die Beschreibung und messerscharfe Analyse der Unternehmensrealität sind eine absolute Lese-Empfehlung. Wohl jeder hat schon ähnliche Erfahrungen gemacht, wie sie in dem Buch beschrieben werden – sei es als Mitarbeiter oder Kunde eines derart „neurotischen“ Unternehmens. Bei den vorgeschlagenen Rezepten zur Heilung stellt sich indes die Frage, wie realistisch und erfolgversprechend sie für etablierte Unternehmen sind. Womöglich hat die Geisteshaltung eines Unternehmens im Frühstadium tatsächlich nur in jungen Unternehmen eine Chance. Zudem wird die Problematik, dass Mitarbeiter operativer Bereiche zu reinen Bedienern standardisierter Prozesse degradiert worden sind, durch diese Vorschläge noch nicht gelöst.

Aus Sicht des Prozessmanagements ist in der Tat kritisch zu hinterfragen, zu welchen Konsequenzen die Optimierung der Abläufe in vielen Fällen geführt hat. Zahlreiche Ansätze zum Prozessmanagement heben durchaus die Bedeutung der Mitarbeiter hervor. Schließlich bieten die Neugestaltung der Prozesse und die Automatisierung standardisierter Arbeitsschritte die Möglichkeit, menschengerechtere Arbeitsplätze zu schaffen. Leider werden diese Aspekte in der praktischen Umsetzung vielfach vernachlässigt.

Wenn Prozessmanager ihren Blick nur nach innen richten und ausschließlich Effizienzsteigerungen anstreben, verpassen sie die Chancen zu echten Prozessinnovationen. Diese werden für die Entwicklung und Umsetzung neuer, wettbewerbsfähiger Geschäftsmodelle dringend benötigt.


Gunter Dueck:
Heute schon einen Prozess optimiert?
Das Management frisst seine Mitarbeiter.
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1 Gedanke zu „Was haben wir bloß mit der Prozessoptimierung angerichtet…“

  1. Schönes Buch, gute Buchkritik!
    Ich sehe da eine entstehende Chance durch die aktuelle Corona-Krise, daß Unternehmen und Unternehmer evtl. etwas bewusster und nachhaltiger planen und handeln für die Zukunft. Immer die Möglichkeiten und Rahmenbedingungen vorausgesetzt.
    Man kann die gewonnenen Freiheiten durch die Anhebung des Automatisierungsgrads ja gut für kreative und innovative Prozesse einsetzen, wozu seither oft die Zeit gefehlt hat. Dann wäre das alles mindestens mittelfristig ein Gewinn.

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